Besprechungen: Der Einzige und sein Eigentum
Widukind DeRidder

Stirner, Max, Der Einzige und sein Eigentum. Ausführlich kommentierte Studienausgabe, hgg. v. Bernd Kast, Karl Alber, Freiburg-München 2009 (452 S., br., 50 €)

Pichler, Michalis, Der Einzige und sein Eigentum, Greatest Hits, Berlin 2009 (464 S., br., 12 €)

 

Die Wirkungsgeschichte von Stirners Hauptwerk lässt sich kaum auf einen Nenner bringen. Seit seiner Veröffentlichung vor 165 Jahren wurde der Autor als ›Anarchist‹, ›Kleinbürger‹, ›Protofaschist‹, Vorläufer nicht nur des ›Neoliberalismus‹, sondern auch des ›Existentialismus‹ wie auch des ›Poststrukturalismus‹ usw. bezeichnet. Neben Publizisten aller Art wurde Stirner in der ersten Hälfte des 20. Jh. auch von Künstlern wie Marcel Duchamp oder Max Ernst vereinnahmt. Angesichts dieser Vielzahl von Anknüpfungen ist daran zu erinnern, dass Der Einzige und sein Eigentum in einer spezifischen Zeitenwende geschrieben wurde, nämlich im Vormärz. Die Schrift vollendete die Desintegration des deutschen Idealismus, indem sie streng philosophische Fragen zielbewusst ihren politischen Implikationen unterordnet. Die Junghegelianer versuchten eine neue Darstellung der Moderne und der Freiheit, einschließlich einer Kritik an Absolutismus, religiösem Dogmatismus und starrem Individualismus. Über diesen Rahmen aber erfährt man in der kommentierten »Studienausgabe« wenig. Die Neuausgabe des Einzigen ist ungewollt Teil der Tradition geworden, Stirner eine Art ›akademische Glaubwürdigkeit‹ zu verleihen.

Kast unternimmt einen Versuch der philosophischen ›Rehabilitierung‹, indem er Stirner als Wegbereiter des Existentialismus darstellt (391ff). Dies führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass die ›Bedeutsamkeit‹ Stirners von dem Maß bedingt wird, in dem er auf philosophische Strömungen des 20. Jh. zugeschnitten werden kann. Solche Gegenüberstellungen wirken unvermeidlich gezwungen, teilweise verzweifelt und sind ironischerweise der Beweis für das, was Autoren wie Kast gerade zu entkräften versuchen: nämlich das Missverständnis, Stirner sei »bedeutungslos, uninteressant und ohne Aktualität« (390). In Wirklichkeit wird Stirner umso uninteressanter, je mehr man ihn der gesamten Geschichte der Philosophie unterordnet.

Zu neuen Interpretationen oder aktualisierender Forschung bietet diese Ausgabe leider wenig Anlass. Vielsagend ist das Nachwort mit dem defensiven Titel »Fünf ausrottbare Missverständnisse in Bezug auf den Einzigen und sein Eigentum« (370ff). Es klingt unangemessen, in Bezug auf Stirner von ›Missverständnissen‹ zu reden, hat er doch deutlich gemacht, dass es ihm auf wahrhaftige Auslegung nicht ankam: »Macht damit [mit meinen Gedanken], was Ihr wollt und könnt, das ist eure Sache und kümmert mich nicht. Ihr werdet vielleicht nur Kummer, Kampf und Tod davon haben, die Wenigsten ziehen daraus Freude.« (299) Der Streit um die ›richtige‹ Deutung droht zu einem Schattenspiel zu werden, in dem ein ›Missverständnis‹ durch ein anderes ersetzt wird. Die gesamte Ausgabe ist von einer solchen Defensivhaltung geprägt. Einerseits wird weitläufig Bekanntes übermäßig kommentiert, andererseits, wenn von Vormärz und Junghegelianern die Rede ist, scheint Kast die Forschungsliteratur der letzten 20 Jahre nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Der vielschichtige, soziopolitische oder historische Zusammenhang, der unverbrüchlich mit der Entstehungsgeschichte des Einzigen verbunden ist, wird dabei weitestgehend ignoriert. Die Neuausgabe kann sich von der bekannten Reclam-Ausgabe nur dadurch hervorheben, dass Stirners Antwort auf seine Kritiker aufgenommen wurde. Dadurch werden die Beziehungen zwischen Stirner, Feuerbach, Hess und Szeliga zumindest indirekt zugänglich gemacht. Die Vorbemerkungen des Hg. aber zeugen keineswegs von einer wirklichen Auseinandersetzung. Stirner beabsichtigte niemals eine neue Subjekt-Objekt- Philosophie oder eine neue Lösung zu präsentieren, sondern versuchte, alles zusammen zu zerstören: »Es kann kein philosophisches System aus ihm [Der Einzige], als aus einem ›Prinzip‹ erbaut werden, wie aus dem Sein, dem Denken oder dem Ich; es ist vielmehr alle Begriffsentwicklung mit ihm zu Ende.« (407)

Besinnlicher als diese Studienausgabe ist Pichlers rein künstlerische Adaption des Einzigen. Seine Fassung beschwört nicht nur Fragen an Stirner, sondern auch die gesamte einschlägige Sekundärliteratur herauf. Kapitel und Seitenüberschriften wurden vom Original übernommen, der Haupttext jedoch völlig gelöscht bis auf Stirners Personal- und Possessivpronomina in der ersten Person Singular. Da das Titelblatt den Namen des Verf. trägt, könnte man sagen, dass dieser sich Stirners Werk zu eigen gemacht hat. Die vielschichtigen historischen Bedingungen und die sog. ›Gegenwartsbezogenheit‹ Stirners werden dadurch zugunsten des reinen ›Ichs‹ negiert. Das Werk erinnert nicht nur an Mallarmé oder die Interventionen der Situationisten, sondern führt den Einzigen schließlich zu dem zurück, was Stirner ›Spukerei‹ nannte. Es gibt nur »Phantomglieder zu spüren, aber nicht zu sehen« (457). Indem Verf. sich über jeden Deutungsversuch lustig macht, enthebt er Stirner der Kritik. Offen bleibt die Frage, ob man Stirner aus künstlerischer oder philosophischer Sicht betrachten soll. Anstatt immer nur die Frage nach irgendeiner ›Gegenwartsbezogenheit‹ zu stellen, sollte stärker versucht werden, Stirners Verabschiedung der gesamten Philosophie im Hinblick auf die politischen Dimensionen und emanzipatorischen oder moralischen Ansprüche der Junghegelianer zu deuten.

DeRidder, Widukind, "Besprechungen: Der Einzige und sein Eigentum," Das Argument 289 (2010), 922-923.