«Ich / Ich / Ich / Ich / Mir / mein / meine» – Was für ein seltsames Buch! Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Band aus Reclams bekannter Universal-Bibliothek: dasselbe knallige Gelb, dieselbe Schrifttype – nur die Verlagsangabe «‹greatest hits›» anstelle von «Reclam». Wenn das Äußere eine klare Imitation der bekannten Buchreihe ist, auf welchen Vorläufer geht dann das Innere zurück? Einen Hinweis gibt ein dreiseitiger, vollständig lesbarer Textabschnitt am Ende. Überschrieben ist er mit dem Goethe-Vers «Ich hab’ Mein’ Sach’ auf Nichts gestellt». Unterzeichnet ist er mit «Max Stirner». Max Stirner?
In Peter Rühmkorfs furiosem Gedicht «Mit den Jahren … Selbst III/88» ruft einer aus: «Also los, solange die Koffergriffe noch halten, / und dann gleich mit’m Intercity Max Stirner / durch die halbe Republik!» Für die linken Kreise der 1960er Jahre, mithin für Rühmkorfs intellektuelles Umfeld, war Max Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844) noch ein zentraler Bestandteil der Diskussion. Immerhin hatte kein geringerer als Karl Marx eine umfassende Kritik an Stirners Philosophie des Egoismus verfasst («Sankt Max») und wesentliche Teile seiner eigenen Theorie in Abgrenzung zu dieser entwickelt.
«Mir geht nichts über Mich!» – Ausgehend vom Denken der Junghegelianer räumt Stirner radikal mit den «Gespenstern» der Ideen auf. Nicht mehr den «heiligen» ‹Gott›, ‹die Familie› oder ‹den Menschen› rückt Stirner in den Mittelpunkt, sondern, das ‹Ich› – den Einzelnen. «Ein Gott, Eine Idee, Ein Hut für Alle! Würden Alle unter Einen Hut gebracht, so brauchte freilich keiner vor dem anderen Hut noch abzunehmen.» An die Stelle lebloser Begriffe wie ‹Staat›, ‹Volk› oder ‹Nation› soll «das stämmige, lebenvolle Einzelne» treten. Nicht für das abstrakte Recht Gottes oder ‹des Menschen› plädiert Stirner, sondern für die «Macht» des Einzelnen. Gegen den toten ‹Spuk› der Gedanken setzt er «ein Recken der Glieder», «ein aufjauchzendes Juchhe».
Man hat Stirner als Vorläufer Nietzsches oder als Vordenker des Anarchimus bezeichnet, als radikalen Egoisten und Nihilisten verdammt. Hans G Helms, der mit seiner Neuausgabe des Einzigen die Stirner-Renaissance in den 1960er Jahren eingeleitet hatte, ist der Auffassung, dass «Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen Ungeists» seien. All diese prekären Diskurse klingen also in Rühmkorfs Gedicht an, wenn das Ich in den «Intercity Max Stirner» steigt. (Im Gegensatz zu Max Beckmann, Max Liebermann, Max Planck, Max Reinhardt und Max Slevogt ist Max Stirner nie die zweifelhafte Ehre zuteil geworden, Namenspatron eines Zuges der Deutschen Bahn zu werden.)
Kanonisiert ist Stirners Werk nur insofern, als dass bereits 1893 eine Ausgabe von Der Einzige und sein Eigentum in Reclams Universal-Bibliothek veröffentlicht wurde. Allerdings war diese keineswegs frei von zensierenden Eingriffen. Aus seiner Ablehnung des Stirner’schen Denkens machte ihr Herausgeber keinen Hehl, wenn er schrieb, sein Vorwort habe allein den «Zweck, Unschuldige vor ihm [Stirner] zu schützen». Erst im Jahr 1972 erschien eine Reclam-Ausgabe, die den vollständigen Text zugänglich machte und um Wissenschaftlichkeit bemüht ist. Auch sie verzichtet jedoch nicht auf ein kritisches Nachwort.
Die Geschichte der Stirner-Rezeption und –Edition ist eine Geschichte voller ideologischer Grabenkämpfe. Sie bildet den Hintergrund für Michalis Pichlers künstlerische Bearbeitung von Stirners Hauptwerk. Der Berliner Künstler verweist zum einen auf den Publikationsrahmen des Werkes, indem er die Reclam-Buchgestaltung imitiert, zum anderen führt er radikale Eingriffe in den Text durch, die das Moment der Zensur offenlegen: Bis auf die Kapitelüberschriften und die Paginierung hat Pichler fast den gesamten Stirner-Text getilgt. Übrig geblieben sind nur Personal- und Possessivpronomen in der ersten Person: «Ich / Ich / Ich / Ich / Mir / mein / meine …» Diese Ich-Mir-Meiner-Wortgruppen akzentuieren Stirners Philosophie des Einzigen auf prägnante Weise. So, als hätte Pichler einen Passus Stirners wörtlich genommen: «Ich aber bin der Kern, der aus allen Verhüllungen erlöst, von allen beengenden Schalen – befreit werden soll. Was bleibt übrig, wenn Ich von Allem, was Ich nicht bin, befreit worden? Nur Ich und nichts als Ich.»
Pichler bezeichnet seine Werke als «Appropriationen». Damit bezieht er sich auf die Appropriation Art, die im New York der 1980er Jahre aufkam. Deren Protagonisten etablierten die bewusste Kopie von Kunstwerken als eigene Kunstform und stellten so den gängigen Begriff der künstlerischen Originalität infrage. Das Verfahren der souveränen Aneignung von fremdem Eigentum lässt an einen Gedanken Stirners denken: «Von deinem und eurem Eigentum trete Ich nicht scheu zurück, sondern sehe es stets als mein Eigentum an, woran Ich nichts zu ‹respektieren› brauche.» Auch dass Pichler das Buch in seinem eigenen Verlag «greatest hits» publiziert, erinnert an Stirners Auffassung, man müsse nicht auf eine vom Staat genehmigte «Pressfreiheit» warten, denn «die Druckerlaubnis hole Ich Mir nur von – Mir».
So eingeführt die Appropriation mittlerweile in der bildenden Kunst ist, so befremdlich wirkt sie im Bereich der Literatur. Handelt es sich bei diesem Buch überhaupt um ein literarisches Werk? Kann und soll man Pichlers Buch lesen? Losgelöst von allen konzeptuellen Überlegungen und dem philosophischen Hintergrund erinnert die Anordnung der Ich-Wörter an die «konstellationen» Eugen Gomringers. Durch Pichlers Verfahren entstehen zufällige Textgebilde, die überraschende Bedeutungen generieren: Ein einziges «Ich», in der Mitte der Seite zentriert, macht die Seite selbst zum Subjekt. Eine Gruppe eng beeinander stehender «Ich»s suggeriert, dass der Einzelne wohl doch nicht völlig auf sich allein gestellt sein kann. Die Überschrift «Der Spuk» lässt die schemenhaft durchschimmernden Wörter der Vor- und Folgeseiten in ihrer Geisterhaftigkeit hervortreten. Und in lapidarer Ironie wird die starke Behauptung des Subjekts infrage gestellt, wo auf ein zögerndes «Ich? / Ich?» die Antwort «meinetwegen» folgt.
Auf der letzten Seite, dort wo in der Originalausgabe verschiedene Titel der Reclam Universal-Bibliothek beworben werden, kündigt Pichler zweisprachige Editionen seines Buches an. Im vergangenen Jahr ist tatsächlich bereits eine ‹chinesische› Ausgabe erschienen. In Anlehnung an zweisprachige Reclam-Bücher wird sie mit einem orangefarbenen Schutzumschlag vertrieben, auf dem die Übersetzungen aller Ich-Wörter abgedruckt sind. Indirekt verweist das Buch verweist damit auf die Stirner-Rezeption im sozialistischen China.
Mit seiner Appropriation greift Pichler auf vielschichtige Weise die Diskurse um Stirners Hauptwerk auf. Dabei verbleibt diese nie bei der bloßen Illustration, sondern gewinnt eine eigene ästhetische Qualität. Stirner betont stets das Kunstwerk als Ausdruck absoluter Einzigartigkeit: «Raphaels Arbeiten kann niemand ersetzen.» Pichler hingegen zeigt, dass Kunst immer nur als Appropriation, nämlich in Anlehnung und Abgrenzung von bereits Vorhandenem entsteht. In seinen Statements zur Appropriation stellt er fest: «Kein Poet, kein Künstler, jeglicher Sorte, hat seine gesamte Bedeutung allein.» Auch Max Stirner nicht.
Tobias Amslinger, "Nur Ich und nichts als Ich," Wespennest, Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder 161 (2011), 104.