Der Einzige und Seine Interpretation
Jochen Knoblauch

Michalis Pichler; Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Anhang. Verlag „greatest hits“ Berlin 2009 / 460 S. / 12 Euro

Nichts ahnend stöbere ich in einem Buchladen herum, bis mein Blick ein Buch streift, welches mir eigentlich bekannt vor kommt, aber trotzdem irritiert: „Der Einzige und sein Eigentum“ als gelber „Ziegelstein“ (Reclam-Ausgabe), aber als Autor ist nicht Max Stirner genannt, sondern Michalis Pichler. Was soll das jetzt? Hat sich da jemand an dem bekannten Buchtitel vergangen, wie etwa Pierre Bordieu mit seinem „Der Einzige und sein Eigenheim“ oder etwa Thomas Kapielski mit seinem – zugegebenermaßen wunderbaren – „Der Einzige und sein Offenbarungseid“? Etwa ein Raubdruck? Und statt des Verlagsnamen „Reclam“ steht an gewohnter Stelle: „greatest hits“.

Ein erstes neugieriges Durchblättern verwirrt noch mehr: statt eines durchgehenden Textes finden sich auf den Seiten 10-412 nur einzelne, verstreute Worte. Erst das genauere Hinschauen lässt erkennen, dass es sich bei den „verstreuten Worten“ um die Personalpronomen aus dem Stirner-Text handelt. Das Reclam-Buch als Vorlage benutzt und alles außer den Personalpronomen weggelassen: Stirner auf sich selbst extrahiert. Da verwundert es einem schon, dass auf den 402 Text-Seiten immerhin über 100 Seiten leer geblieben sind, weil Stirner hier nicht die Worte „Ich, mein, mir, mich“ etc. in den unterschiedlichsten Variationen benutzt hat. Also hat der Einzige auf einem Viertel seines Textes nicht von sich und seinem Eigentum gesprochen (?).

Die „verstreuten“ Personalpronomen, die ja nur „verstreut“ daher kommen, weil sie als einzige vom Originaltext stehen gelassen wurden, ergeben eine eigene Ästhetik, wie sie wohl auch nur hier funktionieren können. Mitunter ergeben diese (un)willkürliche Anordnung eine eigene Ironie, wie etwa die auf Seite 360: „Ich? ... Ich? ... meinetwegen“ und die nächste Seite ist frei!

Von den inzwischen immer öfter vorhandenen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Stirner-Text von 1844 ist dies sicher eine sehr interessante Variante, und eigentlich erübrigen sich die Anhänge von Anette Gilbert und Graig Dworkin (jeweils in deutsch und englischer Sprache), weil sich die Intension des Künstlers bei der Voraussetzung des Wissens um Stirner eigentlich erübrigt.

Michalis Pichler, der nach einem Architekturstudium sich nun auf internationaler Ebene der Kunst verschrieben hat, ist mit seinen Bildkonstruktionen und seinen, der konkreten Poesie angelegten Papierarbeiten kein unbekannter, wenn man sich die Mühe macht ein wenig im Internet zu recherchieren. Dass er dieses vorliegende Projekt auf der letzten Seite in neun weiteren Ausgaben – entsprechend den Übersetzungen des „Eigenen“ – ankündigt will ich gerne als Gag auffassen, und nicht als einsetzenden Größenwahn. Mag ja sein, dass die Übertragung der japanischen oder etwa der russischen Stirner-Ausgabe in der gleichen Art und Weise bearbeitet seinen eigenen Reiz hätte, und für Sammler interessant erscheinen, aber deren Durchführung? Reicht da nicht die Ankündigung?

Ob man dieses Buch haben muss, weiß ich nicht, aber für mich als Sammler von Stirner-Ausgaben ist es eine Bereicherung, wofür ich Herrn Pichler sehr dankbar bin, und wenn ein Kunstliebhaber dies als Objekt kauft, und sich irgendwann entschließt auch das Original zu lesen, dann kann mir das nur recht sein.

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Jochen Knoblauch, "Der Einzige und Seine Interpretation," Espero 65 (2010), 34–35