Literarische Appropriationen sind Plagiate mit künstlerischem Anspruch: Sie schaffen ein neues Werk, indem sie ein bestehendes kopieren.
Unter den Kopisten der Literaturgeschichte gehört Pierre Ménard wohl zu den bekanntesten, sicher auch zu den kühnsten. Schickte er sich doch an, den «Don Quijote» Zeile für Zeile nochmals zu schreiben, um ihn als eigenes Werk auszugeben. Jorge Luis Borges, aus dessen Feder der fingierte Sekundärautor des «Don Quijote» stammt, bemerkt dazu, dass die Abschrift zwar «Wort für Wort identisch» mit dem Original sei, aber «nahezu unendlich viel reicher». Mit diesem Kommentar torpediert Borges ein kulturell tief verwurzeltes Originaldenken, das die Kopie als ästhetisch minderwertig erachtet. Die künstlerische Mimesis findet meist nur dort Anerkennung, wo die Natur, nicht aber andere Werke nachgeahmt werden. Im 18. Jahrhundert, im Zuge der Genieästhetik, erreichte der Primat des Originalen und Eigenen eine Klimax, die juristisch schliesslich in der Entstehung des modernen Urheberrechts mündete. Seither ist es nicht bloss ein Skandalon, sondern gar eine potenzielle Straftat, wenn sich Autoren wie Pierre Ménard im eignen Namen fremde Texte zuschreiben. Trotzdem liegt mittlerweile tatsächlich vor, was bei Borges ein blosses Gedankenspiel war: Das Buch von Pierre Ménard «El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha» ist 2009 unter der ISBN 978-2-918829-06-5 in einer Auflage von 500 Exemplaren in den Editions Lorem Ipsum erschienen. Dieses Werk gehört zu einem Genre, das viel zu wenig bekannt ist, obwohl es bereits auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblicken kann (der verdienstvollerweise von Annette Gilbert kuratierte Katalog «Reprint. Appropriation (&) Literature» arbeitet das Genre fachkundig auf; vgl. Kasten). Die Rede ist von appropriierten Büchern: Das sind Bücher – in der Regel Klassiker und kanonisierte Werke –, die konzeptuell angeeignet und unter fremder Autorschaft wieder aufgelegt werden. So muss sich der Literaturhistoriker unterdessen damit abfinden, dass die Erzählung «Un cœur simple» nicht nur von Gustave Flaubert, sondern auch von Sherrie Levine existiert, dass Shakespeares «Sonnet 56» auch von Paul Hoover erhältlich ist, dass neben Dostojewski auch Kris Martin eigenhändig den Roman «Der Idiot» geschrieben hat oder dass ausser Melville noch Michael Maranda als Autor von «Moby Dick» figuriert. Mallarmés berühmtes typografisches Gedicht «Un coup de dés» kann sich seit Marcel Broodthaers nicht minder berühmter Appropriation von 1969 mittlerweile sogar einer multiplen Autorschaft erfreuen. Und nicht zu vergessen, tituliert sich neben Cervantes und Pierre Ménard auch die Künstlerin Sturtevant als «author of the QUIXOTE». Dass Literatur aus Literatur entsteht, dass Autoren sich bei anderen Autoren bedienen, dass sie Motive, Zitate und Wörter entleihen und in eigene Werke einbauen, dass sie bei der Textproduktion Montage-, Cut-up- und Collagetechniken anwenden, ist seit der Postmoderne keine aufregende Sache mehr, sondern als etablierte literarische Praxis längst unter der Rubrik «Intertextualität» verbucht. Die «Kunst des höheren Abschreibens» à la Thomas Mann besitzt, auch im Zeitalter erhöhter Plagiatsempfindlichkeit, kaum noch poetisches Irritationspotenzial. Anders hingegen sieht es aus, wenn schreibende Zeitgenossen direkt betroffen sind und sich durch Übergriffe mehr beraubt als geschmeichelt fühlen, wie im Fall von Thomas Brunnsteiner, der in Urs Mannharts Roman «Bergsteigen im Flachland»nicht ausgewiesene Übernahmen aus seinen Reportagen entdeckte und dagegen (vergeblich) prozessierte. Auf der einen Seite steht der legitime Anspruch auf geistiges Eigentum im Raum, auf der anderen Seite dreht sich die Debatte um die Freiheit im literarischen Umgang mit vorgefundenem Sprachmaterial. Eine Frage, die sich bei Klassikern, bei denen das Copyright überdies erloschen ist, nochmals anders stellt als bei unbekannteren Prätexten. Wo genau die Grenze zwischen einer betrügerischen und einer künstlerischen Aneignung verläuft, ist oft kaum eindeutig entscheidbar. Das Urheberrecht gibt diesbezüglich das Kriterium der «Schöpfungshöhe» zur Hand. Wer aus fremdem Material Neues und Eigenes kreiert, besitzt eine grössere Schöpfungshöhe als jemand, der mangels eigener Ideen bei anderen abkupfert. So kann man James Joyce ebenso wenig vorwerfen, er habe mit «Ulysses» Homer plagiiert, wie man – um ein jüngeres Beispiel aufzugreifen – Reto Hänny nachsagen kann, mit seiner «Ulysses»-Adaption «Blooms Schatten» Joyce bestohlen zu haben. Handelt es sich doch um eine transparente und zudem äusserst kunstvolle Bezugnahme auf den kolossalen Vorgänger, die neben der sprachschöpferischen Leistung auch ein neues Licht auf den Klassiker wirft, indem die Paraphrase narrative Details hervorhebt, die bei der Lektüre im anspielungsreichen Original leicht überlesen werden können. Trotz konzeptueller Nähe weist Hännys freie Joyce-Adaption zu viel «Eigenes» und «Eigentümliches» auf, um im engeren Sinn als Appropriation zu gelten. Eine solche orientiert sich sowohl auf lexikalischer als auch auf typografischer Ebene in einer intrikaten Nähe zum Original und reizt damit den urheberrechtlichen Toleranzrahmen desto stärker aus. Nicht umsonst musste sich der Künstler Richard Prince vor Gericht verantworten, weil er die Erstausgabe von Salingers «Catcher in the Rye» unter seinem Namen erneut herausgegeben hatte. Dabei half es ihm wenig, dass er im Impressum ironisch eine präventive, in ähnlicher Weise häufig anzutreffende Standardformulierung abdruckte, die jede Ähnlichkeit mit anderen Büchern als rein zufällig und nicht intendiert zurückwies. Gleichwohl reproduzieren selbst Appropriationen die angeeigneten Werke in der Regel nicht in vollkommener Kongruenz, sondern in modifizierter Form, die oft auch an die Grenzen konventioneller Lesbarkeit stösst. Mehr noch fordern sie neue Lesarten geradezu heraus. So zum Beispiel die Appropriation des «Ulysses» von Simon Popper, der das Buch zwar in authentischer Gestaltung und identischer Auflagenhöhe der Erstausgabe wieder veröffentlicht, aber sämtliche Wörter, Ziffern und Satzzeichen des Originals nacheinander in alphanumerischer Reihenfolge aufführt, so dass neben den zahlreichen und für Joyce typischen «hapax legomena» (d. h. Textstellen mit nur einem Beleg im ganzen Werk) auch seitenweise Kommas oder dieselben Artikel und Präpositionen aufgelistet werden. Anstelle der Erzählung wird der «Leser» mit der Fülle des gesamten Vokabulars konfrontiert und der Blick entsprechend vom Inhalt auf das bare Sprachmaterial umgelenkt. Auch wenn diese Darstellung durch die wörtliche Aufsprengung des Joyceschen Narrativs eine gewöhnliche Lektüre sabotiert, so vermittelt sie doch – gespiegelt an der durchschnittlichen Wortokkurrenz der englischen Sprache – einen Eindruck von der hochspezialisierten und breitgefächerten Lexik des Autors. In einem dergestalt entstellten Blick auf vermeintlich bekannte Originale liegt der künstlerische Anspruch vieler Appropriationen. Die zunächst dreiste Aneignung geht in den meisten Fällen mit einer konzeptuellen Ver- bzw. Entfremdung einher, was sie prinzipiell vom Vorwurf des Plagiats entlastet, ihnen angesichts des oberflächlich de(kon)struktiven Umgangs mit dem Original dafür leichthin einen biblioklastischen Anschein einhandeln könnte. Tatsächlich gehen die literarischen Aneigner oft nicht zimperlich mit ihren Vorlagen um. Die Art der manipulativen Eingriffe in den Originaltext ist dabei so vielfältig wie ihre Zwecksetzung. Es wird getilgt, geschwärzt, gestrichen, radiert, variiert, permutiert, kompiliert und alphabetisiert. Die literarischen Meisterwerke werden systematisch in ihre semantischen und/oder typografischen Bestandteile zerlegt und statistisch ausgewertet. Solche Demontagen mögen auf den ersten Blick einer gewissen Komik oder zumindest einer feinen Ironie nicht entbehren, doch verpuffen sie nicht in der Pointe alleine. Annette Gilbert legt im Vorwort zu ihrem Katalog der Appropriationen überzeugend dar, dass diese oft auf vertieften Auseinandersetzungen mit der Originalvorlage beruhen, mitunter sogar eine geradezu buchstäblich genaue Analyse derselben vornehmen, die zu überraschenden Einsichten über die materielle oder semantische Beschaffenheit des jeweiligen Textes führt, die bei der Lektüre selbst gar nicht zwingend ins Auge fällt, die Rezeption aber oft unbemerkt beeinflusst oder steuern kann. So reduziert etwa Michalis Pichler in Max Stirners radikal-ideologischer Hauptschrift «Der Einzige und sein Eigentum» den Text bis auf die Pronomen der ersten Person Singular in allen Deklinationsformen und macht dadurch sichtbar, in welchen Intensitätsgraden sich die programmatisch postulierte Egozentrik auch performativ in der Sprachgestaltung niederschlägt. Auf diese Weise lassen sich neue Beobachtungen und Aussagen realisieren, ohne auch nur ein einziges eigenes Wort zu verwenden, indem bloss bestehende Texte modifiziert oder abgetragen werden. «Erasure poetry» nennt sich dieses Verfahren. Durch gezielte Tilgung von Worten, Zeilen oder ganzen Sätzen im appropriierten Werk wird ein neuer Sinngehalt erzeugt. Elisabeth Tonnard etwa löscht die ersten zwölf Verse von T. S. Eliots berühmtem Poem «The Love Song of J. Alfred Prufrock» mit Tipp-Ex so weit, dass nur noch die Aufforderung übrig bleibt: «Let us read less.» Die Aussage der Zeile erfüllt sich beim Lesen selbst und wird zur Maxime einer ästhetischen Überzeugung, die neben dem unantastbaren Status des Originals und der Integrität des Textes noch ein drittes Dogma unseres Kulturkreises ankratzt: die Forderung nach kreativer Neuheit. Denn viele Appropriationen sind im Umfeld des «conceptual» bzw. des «uncreative writing» anzusiedeln. Kenneth Goldsmith , Vertreter und theoretischer Mitbegründer dieser Bewegung, prägte – in minimaler Abwandlung einer Aussage des Konzeptkünstlers Douglas Huebler – das Diktum: «The world is full of texts, more or less interesting; I do not wish to add any more.» Wie zum Hohn auf den Literaturbetrieb, der stets nach Neuem verlangt, zieht sich Goldsmith angesichts der kulturellen Überfülle in die dezidierte Unkreativität zurück, indem er sich entschliesst, anstatt neue Texte zu produzieren, nur noch bestehende Texte zu appropriieren. Goldsmiths Diktum ist, unter verkehrten Vorzeichen allerdings, ein fernes Echo auf das alte salomonische Lamento, dass nichts Neues unter der Sonne sei. Entlang der abendländischen Kultur vererbte sich dieser Topos als resignierter Ausdruck eines enttäuschten Originalitätsbewusstseins. Der Schriftsteller, der Neues schaffen will, sieht sich immer schon mit der Fülle der literarischen Überlieferung konfrontiert und also auch damit, was Harold Bloom die Einflussangst nennt. Vertreter des «uncreative writing» hingegen empfinden die Tradition nicht als Einschränkung, oder wenigstens sehen sie die kreative Beschränkung nicht als Hindernis, sondern im Gegenteil als Stimulus, das Vorhandene nochmals, aber anders (verfremdet und variiert) aufzulegen. Gerade das produktive Spannungsverhältnis zum bereits bestehenden Material generiert eine neue Form von künstlerischer Freiheit. Anstatt vom unbeschriebenen Blatt auszugehen, schöpfen Aneignungen lieber aus dem vollen Arsenal der Weltliteratur. Diese Haltung spiegelt sich auch in der historischen Semantik der Vokabel «Kopie». Sie leitet sich ab vom lateinischen Wort «copia», was so viel wie Fülle, Überfluss und Reichtum bedeutet, also anders als heute keineswegs ein negativ besetzter Begriff war. Hieraus erklärt es sich auch, weshalb Borges den kopierten «Quijote» als «viel reicher» als das Original bezeichnen kann. Dieser Etymologie liegt ein Verständnis zugrunde, das in der Kopie nichts Defizitäres, sondern eine – durch die zeitliche, räumliche oder mediale Distanz zum Original bewirkte – Bereicherung erblickt.Legitimität der Aneignungen
Einflussangst
Magnus Wieland, "Literarische Aneignungen / Kongeniale Kopisten," Zurich: Neue Züricher Zeitung (2015)